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NZZ – Wednesday, 31st. May 2017

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Zürcher Startup-Unternehmen mit Weltpremiere: CO2 wird aus der Luft gefiltert

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In Hinwil ist die weltweit erste Anlage in Betrieb genommen worden, die das Treibhausgas CO2 aus der Luft filtert. Die Technologie könnte zukünftig dazu beitragen, unsere «Klimaschulden» zu begleichen.

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Die Gemeinde Hinwil im Zürcher Oberland ist vor allem Motorsportbegeisterten ein Begriff. Seit Jahren befindet sich hier der Rennstall des Formel-1-Teams Sauber. Seit kurzem hat Hinwil eine weitere Attraktion zu bieten. Auf dem Dach einer Kehrichtverbrennungsanlage ist am Mittwoch eine weltweit einzigartige Industrieanlage eingeweiht worden, die gewissermassen die Antithese zu den schadstoffausstossenden Formel-1-Boliden ist.

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Die vom Zürcher Startup-Unternehmen Climeworks entwickelte Anlage soll pro Jahr 900 Tonnen CO2 aus der Umgebungsluft abscheiden. Das so gewonnene Treibhausgas wird in ein nahe gelegenes Gewächshaus geleitet, um dort das Wachstum von Tomaten, Gurken oder Auberginen anzukurbeln. Das klingt nicht besonders spektakulär. Langfristig hat Climeworks allerdings grosse Ambitionen. Was die Firma in Hinwil nun in kleinem Massstab demonstriert, könnte in den kommenden Jahrzehnten dazu beitragen, unsere «Klimaschulden» zu begleichen.

Climeworks ist eine Ausgründung der ETH Zürich. Im Jahr 2009 machten sich die Maschinenbaustudenten Christoph Gebald und Jan Wurzbacher selbständig. Ihre Geschäftsidee bestand darin, mit einem geeigneten Adsorbermaterial CO2 aus der Luft zu filtern und daraus zum Beispiel synthetische Kraftstoffe herzustellen. Im Unterschied zu fossilen Kraftstoffen wären diese im Idealfall CO2-neutral.

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Ein Schwamm für CO2

Die Anlage, die heute in Hinwil eingeweiht wurde, ist das Ergebnis langjähriger Forschung – und sie ist ein erster Schritt dazu, die in den letzten Jahren entwickelte Direct-Air-Capture-Technologie zu kommerzialisieren. In jedem der achtzehn übereinandergetürmten Module befinden sich Ventilatoren, die Luft ansaugen. Diese strömt durch ein speziell behandeltes Filtermaterial auf Zellulose-Basis. Wie ein Schwamm nimmt der Filter CO2-Moleküle auf, bis er gesättigt ist. Um ihn wieder zu aktivieren, wird der Filter unter Vakuum gesetzt und auf 95 Grad erhitzt. Die nur lose anhaftenden CO2-Moleküle lösen sich von der Oberfläche und werden zwischengespeichert. Der nächste Zyklus kann beginnen.

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Der Standort Hinwil bietet nahezu ideale Voraussetzungen für den Betrieb der Anlage. Zum einen hat Climeworks hier einen zahlungsbereiten Abnehmer für sein CO2 gefunden. Zum anderen liefert die Kehrichtverbrennungsanlage die Niedertemperatur-Wärme, die zum Austreiben des CO2 benötigt wird. Diese macht zirka 80 Prozent des gesamten Energiebedarfs der Anlage aus.

Climeworks ist nicht das einzige Unternehmen, das an der Direct-Air-Capture-Technologie arbeitet. Die Konkurrenz sitzt vor allem in Kanada und den USA. Climeworks sei aber die einzige Firma, die ein kommerzielles Produkt vorzuweisen habe, sagt Wurzbacher. In den vergangenen Jahren habe man nicht nur in die Forschung investiert, sondern parallel dazu auch eine professionelle Betriebsstruktur aufgebaut. Heute beschäftige Climeworks 45 Mitarbeiter.

Der grosse Vorteil der Direct-Air-Capture-Technologie bestehe darin, dass man das CO2 direkt vor Ort gewinnen könne, sagt Wurzbacher. Alles, was man brauche, seien günstige Wärme und Strom, der möglichst aus regenerativen Energiequellen stammen sollte. Als zukünftige Abnehmer sieht Wurzbacher neben Gewächshäusern vor allem die Getränkeindustrie. Diese beziehe das CO2 zur Aufbereitung von Mineralwasser bis jetzt aus der chemischen Industrie. In abgelegenen Gegenden mit langen Transportwegen sei die Direct-Air-Capture-Technologie schon heute eine wirtschaftliche Alternative.

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Ein Beitrag zum Klimaschutz

Das eigentliche Potenzial der Direct-Air-Capture-Technologie liegt allerdings im Klimaschutz. Was Climeworks und andere Firmen zu Hoffnungsträgern macht, ist die Vision, CO2-Emissionen zu vermeiden oder diese gar rückgängig zu machen. So kooperiert Climeworks seit 2013 mit dem Autohersteller Audi. Gemeinsam wollen die beiden ein Modul des CO2-Kollektors in eine Anlage zur Produktion von CO2-neutralen synthetischen Kraftstoffen integrieren.

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Noch mehr würde das Klima profitieren, wenn das aus der Luft gewonnene CO2 in eine unterirdische Lagerstätte gepumpt würde. In diesem Fall wäre die CO2-Bilanz sogar negativ. Solche negativen Emissionen sind spätestens seit dem letzten Bericht des Weltklimarats ein Thema. Denn selbst bei sinkenden Emissionen ist abzusehen, dass in den nächsten Jahrzehnten mehr CO2 in die Atmosphäre gelangen wird, als zum Erreichen des Zwei-Grad-Ziels zulässig ist. Will man dieses Ziel dennoch erreichen, müsste in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts das zu viel emittierte CO2 wieder aus der Atmosphäre entfernt werden – und zwar in einer Grössenordnung von 10 Gigatonnen pro Jahr. Für diese Mammutaufgabe würde man elf Millionen Anlagen wie jene in Hinwil benötigen.

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Das sind Dimensionen, die momentan kaum vorstellbar sind. Das Gleiche gelte allerdings für andere Technologien, mit denen man der Atmosphäre effektiv CO2 entziehen könne, sagt der Verfahrenstechniker Marco Mazzotti von der ETH Zürich. Mazzotti nennt als Beispiel ein Verfahren namens BECCS (Bio-energy with carbon capture and storage). Dabei wird das unter die Erde gepumpte CO2 nicht aus der Luft abgeschieden, sondern aus dem Abgas von Kraftwerken, die mit CO2-neutraler Biomasse befeuert werden.

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Beide Verfahren hätten ihre Vor- und Nachteile, sagt Mazzotti. Die BECCS-Technologie liefere Strom und Wärme. Dafür würden für den Anbau der Biomasse grosse Mengen Wasser und riesige Anbauflächen benötigt, die unter Umständen für die Lebensmittelproduktion fehlten. Beim direkten Abscheiden des CO2 aus der Luft benötige man zwar keine Rohstoffe und auch kein Agrarland, dafür müssten der Anlage erhebliche Mengen an Strom und Wärme zugeführt werden. Das sei vor allem dann ein Problem, wenn man an den Bau grösserer Anlagen denke. Welche Option die bessere sei, hänge stark von den geografischen Gegebenheiten ab. Er könne sich gut vorstellen, dass man in Zukunft beide Technologien brauchen werde.

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CO2-Reduktion hat Vorrang

Mazzotti warnt allerdings davor, die eigentliche Aufgabe aus den Augen zu verlieren. Derzeit würden um die 35 Gigatonnen CO2 pro Jahr ausgestossen. Es sei illusorisch zu glauben, das alles liesse sich – mit welcher Technologie auch immer – wieder aus der Atmosphäre entfernen. Oberste Priorität müsse deshalb die Reduktion der Emissionen haben. Danach könne man sich Gedanken über negative Emissionen machen.

Ob das Abscheiden von CO2 in Zukunft eine Rolle bei der Lösung des globalen Klimaproblems spielen kann, ist auch eine Frage der politischen Rahmenbedingungen. Damit entsprechende Technologien im Markt Fuss fassen könnten, brauche es höhere Abgaben auf CO2-Emissionen, sagt Wurzbacher. Ein Preis von 100 Franken pro Tonne wäre eine realistische Zielvorgabe für Climeworks. Davon sei man heute zwar noch um den Faktor sechs entfernt. Doch durch die Produktion grösserer Stückzahlen, die Senkung des Energieverbrauchs sowie anlagenspezifische Verbesserungen liege ein solcher Preis durchaus in Reichweite. Mit dem vom Bundesamt für Energie unterstützten Demonstrationsprojekt in Hinwil will Climeworks in den nächsten drei Jahren nicht zuletzt Erkenntnisse darüber gewinnen, mit welchen Betriebskosten bei zukünftigen Industrieanlagen zu rechnen ist.

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